Durst 11/2020

10  Hauptgang «Die Regionalküche ist eine Chance» Die traditionellen Gerichte der Schweiz sind geprägt durch die Milchwirtschaft und die Alpen. Sie zeichnen sich durch eine hohe Vielfalt und Produkte aus der Region aus . Dominik Flammer hat sich intensiv mit dem kulinarischen Erbe des Alpenraums beschäftigt. Im Gespräch mit DURST sagt der Autor, Foodscout und Essensforscher, dass das Gute sehr nahe liegt, warum das Traditionelle für die Gastronomie Erfolg verspricht und welche Rolle das Vertrauen in Lebensmittel spielt. Autor, Foodscout und Essensforscher Dominik Flammer Was versteht man eigentlich unter dem Begriff «Schweizer Traditionsküche»? Dominik Flammer: Die Schweizer Traditions- küche gibt es nicht. Was wir darunter verstehen sind verschiedene Regionalküchen, die sich gegenseitig beeinflusst haben, auch über die Landesgrenzen hinweg. Pizokel zum Beispiel gibt es sowohl im Puschlav als auch im Veltlin. Und was zeichnet sie aus, die Regional­ küchen in der Schweiz? Einerseits sind sie geprägt durch dieMilchwirt- schaft, andererseits zeichnen sie sich durch eine grosse Vielfalt aus. Aufgrund des Klimas und der Topografie musste man in der Schweiz diversifizieren, denn je mehr Vielfalt, desto grösser die Chance, dass man die Speisekam- mer füllen und im Winter satt werden konnte. Mit Monokulturen hätten wir mehr Hungersnö- te gehabt. So kam bei uns die Kartoffel früher auf als anderswo, und man dörrte Bohnen. Dörrbohnen sind ein urklassisches Schweizer Gericht, das es sonst nirgends gibt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam der alpine Tourismus auf. Hatte das auch Einfluss auf die Angebote in der Gastronomie und der Hotellerie? Die Schweiz hatte die erste globalisierte Küche der Welt, und das prägt die Gastronomie noch immer. Vor allemder Einfluss der französischen Küche ist gross. Auf vielen Speisekarten steht Pot-au-feu statt Siedfleisch oder Mille-feuille statt Crèmeschnitte. Schade eigentlich, denn die Schweizer Regionalküche ist für die Mehr- heit der Gastronomiebetriebe eine Chance, sich gegenüber der Konkurrenz zu behaupten. Traditionelle Gerichte sind eine Seelennahrung, und auf diese Seelennahrung sollteman setzen: auf Hacktätschli mit Kartoffelstock, Gschwellti mit Käse, hausgemachte Capuns oder Fleisch- käse mit Kartoffelsalat. Aber Achtung: Von den Gästen wissen viele, wie man ein Hacktätschli zubereitet. Erfolg hat man nur, wenn es imLokal noch besser schmeckt als zu Hause. Empfiehlt es sich, den traditionellen Gerichten einen modernen Touch zu geben? Die Zeiten der kompletten Neuinterpretationen sind vorbei. Wichtiger ist, regionale Zutaten, zu verwenden, mit denen man eine Geschichte erzählen kann, zum Beispiel Käse von der Alp, mit demman die Käsespätzli zubereitet. Das ist authentisch und glaubwürdig. Eigentlich heisst das Motto «Bauer sucht Koch» oder umgekehrt «Koch sucht Bauer»: Jeder Gastronom sollte sich überlegen: Was bekomme ich im eigenen Dorf? Wenn ich das Fleisch nicht in der Region und das Brot nicht von der Dorfbäckerei bezie- he, habe ich etwas nicht begriffen, und wenn ich im Jura keinen Mont d’Or auf der Karte habe, mache ich etwas falsch. Gastronomiebetriebe brauchen ein Profil. Tradition und Regionalität sind hervorragende Profile, die von den Gästen in Corona-Zeiten besonders geschätzt werden. Das hängt damit zusammen, dass das Bedürf- nis nach Vertrauen gestiegen ist, auch nach Vertrauen in Lebensmittel. Produkte aus der Nähe und traditionelle Gerichte geniessen ein hohes Vertrauen. Im Ausland suchen wir Schweizer ja auch das Regionale, das Spezielle – und nicht das, was die ganzeWelt liefern kann. Käsespätzli mit Käse von der Alp. Der Autor und Foodscout beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit der Geschichte der Ernährung, insbesondere mit dem kulinarischen Erbe des Alpenraums und der Zusammenarbeit zwischen der Landwirtschaft und der Gastronomie. Dominik Flammer ist Inhaber der Agentur Public History Food, die auf die historische Recherche für die Ernährungsgeschichte spezialisiert ist. Das kürzlich in Stans eröffnete Culinarium Alpinum geht auf seine Initiative zurück. www.publichistory.ch, www.culinarium-alpinum.com DOM I N I K F L AMMER

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