Durst 07/2023

10 Hauptgang Regional, nachhaltig – und exotisch! Lange konnte es auf den Tellern von Herrn und Frau Schweizer nicht exotisch genug sein. Wie die Lebensmittel produziert wurden und welch lange Reisen sie hinter sich hatten, war zweitrangig. Doch die Krisen haben viele Realitäten verändert. Die Zukunft gehört dem Lokalen. Weil die Lust auf Exotisches geblieben ist, werden immer mehr exotische Lebensmittel in der Schweiz produziert. Schweizer Produzenten entdecken neue Produkte Zitronen aus der Waadt? Noch vor zwanzig Jahren wäre Niels Rodin für die Idee, diese Frucht kommerziell in der Schweiz zu kultivieren, belächelt worden. Die Gesellschaft lebte in einer Kultur des Überflusses, exotische Produkte aus allen Teilen des Planeten waren so beliebt wie selbstverständlich. Wieso derart viel Energie in etwas stecken, das man doch so einfach importieren kann? Doch die Zeiten ändern sich: Heute gilt Niels Rodin als visionär, seine Produkte sind gefragt, Feinschmecker und Spitzenköche schwören auf sie. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die auch Michael Rüttimann erzählen kann. Der Aargauer baut seit zwei Jahren auf einem Feld nahe der Reuss Risottoreis an – und findet damit bei seiner privaten Kundschaft als auch in der Gastronomie grossen Anklang. Niels Rodin und Michael Rüttimann sind nur zwei Beispiele von vielen. Inzwischen versuchen sich landauf, landab findige Unternehmerinnen und innovative Unternehmer in der Herstellung exotischer Lebensmittel von Kaviar und Lachs, über Ingwer bis hin zu Kiwis. Der Markt dankt es ihnen mit einer grossen Nachfrage. Trend ist aus Krisen entstanden Der Trend, der dieser Entwicklung zugrunde liegt, nennt sich New Glocal. Er entspringt einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel, der sich während der Pandemie und anschliessend mit dem Krieg in der Ukraine akzentuiert hat: Vor dem Hintergrund des virulenten Klimawandels haben wir während Corona erstmals erlebt, wie es ist, wenn gewisse Lebensmittel wegen unterbrochener Lieferketten in den Regalen fehlen. Und unmittelbar darauf mussten wir angesichts der geopolitischen Verwerfungen erkennen, in welch grosse Abhängigkeiten wir uns in den letzten Jahrzehnten begeben haben. Kurz, die vielen Krisen, die die Welt in jüngster Zeit praktisch simultan durchlief, haben die Schwächen des zuvor während einer langen Zeit etablierten Systems schonungslos offengelegt und die Nachhaltigkeit zum obersten Credo werden lassen. Ein Credo, das die Menschen auch zu Tisch einfordern. Diesem Credo misst die renommierte Ernährungswissenschaftlerin und Food-Trend-Expertin Hanni Rützler eine grosse Bedeutung zu. Ihr Foodreport 2023 – ein Forschungswerk, das die Österreicherin seit 2013 einmal jährlich herausgibt – steht denn auch ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit. Sie sagt: «Nachhaltigkeit ist auch in der Gastronomie zu einem wichtigen Differenzierungsfaktor geworden. Vor allem Gäste aus der jungen, klimabewussten Generation werden bei der Wahl des Restaurants in Zukunft noch mehr darauf achten, ob der ‹innere Antrieb› des Unternehmens mit ihren eigenen Werten korrespondiert.» Neuer Fokus auf Regionalität Hanni Rützler streicht dabei insbesondere New Glocal als einen der grössten Trends der nahen Zukunft heraus. Die entstandenen Dynamiken sind derart stark, dass sie darin nicht weniger als einen «Vorboten der nächsten Evolutionsstufe in der globalen Lebensmittelproduktion» erkennt. Das wiederum bedeutet, dass ein neuer Fokus auf die Regionalität entsteht. Wobei die Rechnung simpel ist: Je näher produziert wird, desto kürzer sind die Transportwege und desto grösser die Transparenz bezüglich Herstellungsbedingungen und Qualität. Diese Entwicklung wird laut Hanni Rützler zu einer Veränderung im Sortiment der Händler führen, weil die Nachfrage nach regionalen Produkten stetig steigt. Ihr Fazit: «Nicht der günstigere Preis, sondern die regionale Verfügbarkeit wird zum primären Kriterium, ob Nahrungsmittel importiert werden oder nicht.» Während die lokalen Hersteller seit Jahren unter einem grossen Kosten- und Leistungsdruck stehen, eröffnen sich ihnen nun Chancen. Einerseits können bestehende Angebote ausgebaut und alte Gemüse- und Obstsorten wiederentdeckt werden. Andererseits entsteht Platz für Neues. Wenn der Zitrusbauer Niels Rodin sagt, dass sich «seine Zitrusfrüchte von handelsüblichen Produkten unterscheiden», dann ist das nicht nur das Ergebnis der Anbaubedingungen, sondern auch seiner grossen Experimentierfreude und Leidenschaft. Und wenn der Aargau­ «Nicht der Preis, sondern die regionale Verfügbarkeit wird zum primären Kriterium.» Hanni Rützler, Food-Trend-Expertin Der Begriff Glocal kommt aus dem Englischen und setzt sich aus den Adjektiven global und lokal zusammen. Bei New Glocal handelt es sich derweilen um einen heute starken Foodtrend, der das Verhältnis zwischen lokal produzierten und global importierten Lebensmitteln wieder zurechtrücken will. Bei dieser Neuausrichtung sollen regionale Agrarstrukturen und der Binnenmarkt gestärkt, gleichzeitig aber auch die Spielregeln für die Importe hinsichtlich nachhaltigen Wirtschaftens verschärft werden. NEW GLOCAL

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