Durst 11/2023

28 Markt & Trends Was man in einer anderen Zeit nur Mädchen in ihr Poesie-Album schrieb, ist vergessen und vorbei. Und ja, auch den Jungs hätte dieser weise Rat gut angestanden. Schau ich mich auf Instagram, Tiktok oder auf Dating-Portalen um (man will ja wissen, was die Konkurrenz so draufhat), erreicht die Selbstoptimierung unerreichte Levels. Sicher, es gibt Dinge, die müssen perfekt sein – Luft, Bier, Avocados, Bahnschienen, ein pochiertes Ei, der Ton auf einer Cello-Saite, Stille, das Vertrauen zwischen Liebenden. Auch an maximal bearbeitete Porträts haben wir uns gewöhnt. Und denken dabei etwas frustriert an die eigene, picklige Teenie-Zeit zurück, mit Gesichtern wie Streuselkuchen, ohne Chance, diese irgendwie fototechnisch zu optimieren. Wir leben in einer Epoche, in der die Voraussagbarkeit der eigenen Performance schmilzt zelne, die ganz anders und von der Herde so weit entfernt sind wie Beteigeuze, der Stern im Orion, der bald explodieren wird. Nimmt man eines dieser Schafe heraus und schert es, erkennt man vielleicht die Person darunter. Ich muss zugeben, auch ich stellte kürzlich Kater Alfred auf meine Knie, auf dem Sofa eine einigermassen gute Figur abgebend. Ich hatte mich zu einer Story in einer grossen Schweizer Illustrierten (sic) überreden lassen. Ein Dinner-­ Event im Casinotheater Winterthur, an dem ich kochte, brauchte noch etwas Publizität. Bei den restlichen Fotos von mir bestand ich auf die Küche als Hintergrund, dort gehöre ich hin. Und nicht in die Badewanne. Authentisch sein heisst aber auch, zeigen, was nicht rund läuft. Warum nicht die Community teilnehmen lassen, wenn das grosse Messer den Finger schneidet anstatt die Zwiebel? Und die Videokamera laufen lassen – auch auf die Gefahr hin, als Alki abgestempelt zu werden – wenn beim Kochen der Griff zum Bier- oder Weinglas eine ungeahnte Relevanz (und Häufigkeit) erreicht? Vielleicht wurde gerade darum mein Rezeptvideo über ein Pastagericht mit Schalotten bald einmal eine halbe Million Mal angeklickt? Auch wenn es sich unsexy anhört, das Rezept ist phänomenal. Nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen, sondern aus der New York Times. Klicken Sie es an, kochen Sie es ebenfalls – was auch immer Sie dabei auf Ihre ganz eigene, authentische Weise tun. wie die Gletscher im Hochgebirge. Anders ausgedrückt: Es wird nichts ausgelassen, um der Aufmerksamkeit Beine zu machen. Nicht, dass ich mich selbst komplett davon ausnehme. Zu wissen, wer man ist, was man isst und was man gut kann, gepaart mit einem Anflug von Narzissmus und einer grossen Portion Selbstironie, die einen immer wieder über sich selbst lachen lässt, damit geht es etwas leichter durchs Leben. Die neueste Form der Selbstdarstellung: Posieren mit Tieren und anderen Dingen, die einem nicht gehören. Das nennt sich dann Dog- oder Catfishing. Pech nur, wenn die Menschen der Begierde unter Hunde- oder Katzenhaarallergien leiden. Selbstredend zeigt sich auch keine(r) mit einer gefrässigen Riesenheuschrecke oder einer ekligen Küchenschabe. Cleverer wäre es bestimmt, dann ragt man heraus aus der Herde, denn für alle anderen gilt: Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein. Dish- und Cheffishing ist letzter Schrei Der letzte Schrei ist Posieren mit Gerichten, die andere, vermutlich berühmtere Zeitgenossen, gekocht haben. Das wird als Dish- oder Cheffishing bezeichnet. Dabei ist es doch gerade das Authentische, was beim Kochen zählt. Insta und Tiktok sind sozusagen die Epizentren des Schafseins. Alle sind ultracool, alle sind sehr gleich, wie eine Herde. Ergo sind sie auch Schafe. Sicher, das ist sehr verallgemeinert. Es gibt EinVon Schafen an den Herden Richi Kägi plädiert für Authentizität, Eigenständigkeit und den Mut, anders als die grosse Schafherde zu sein. In der Küche, im Leben, möglichst immer und überall. Denn: Wer sich einbringt und querdenkt, kocht und lebt besser. Sei wie ein Veilchen im Moose, Bescheiden, sittsam und rein. Und nicht wie die stolze Rose, Die immer bewundert will sein.

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